Marco Polo mit 489 PS

Jochen Temsch in der Süddeuschen Zeitung am 15.04.2010

die höchsten Honorare der Seidenstraße sind inzwischen zum überfliegen, deshalb wird jetzt eine Reisegruppe im Bus von Hamburg nach Shanghai

Es gibt Reisende, die sehen das Fliegen wie alte Indianerhäuptlinge. Sie denken, wenn sie mit einem Donnervogel in ein anderes Land jetten, dann ist vielleicht ihr Körper da, aber die Seele noch lange nicht, die kommt erst 2, 3 Tage später nach. Sie meinen, nur wer über Land fährt, ist mit allem Drummond drang unterwegs. Das ist schon mal ein guter Grund, mit dem Bus von Hamburg nach Shanghai zu fahren. Wolfram Goslich weiß noch ein paar Gründe mehr.Der 55-jährige Berliner sitzt die meiste Zeit hinterm Steuer bei dieser Extratouren, die soeben in der Hansestadt begonnen hat: 17 000 km in 74 Tagen durch Deutschland, Italien, Griechenland, die Türkei, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan und China.Eine Erfahrung im wahrsten Sinn des Wortes."Wir fragen uns nicht: wie lange brauchen wir? Sondern: wie lange lassen wir uns Zeit?", sagt Goslich.

Er ist kein Busfahrer der gemütlichen Sorte, wie sie vielleicht zu einem Konzert der Kastelruther Spatzen nach Südtirol juckelt. Er ist auch keiner," der sich zu wenig bewegt, zu viel raucht und nur Schnitzel isst", wie er das Image seines Berufsstandes selbst umschreibt. Dazu passt er schon rein phänotypisch nicht. Goslich ist schlank und sportlich, in seinen Fahrpausen unternimmt er Spritztour mit seinem Mountainbike, das er stets im Gepäckraum mitführt. Und erst schon gar kein Busfahrer, der seine Aufgaben nur im Fahren sieht. Den Bus so zu steuern, dass den Gästen der Kaffee nicht überschwappt, ist sowieso Pflicht. Soziale Kompetenz ist die Kür."Chauffeure müssen für Ergebnisse sorgen", sagt er, "was bleibt denn von einer Reise? Fotos, die keiner anschaut. Souvenirs, die verstauben. Am Ende sind es nur Gefühle und Träume, die zählen."

Diese Reise soll besonders starke Emotionen wecken: es geht auf die Seidenstraße. Auf die Spur Marco Polos. Eine 3000 Jahre alte Kulturroute! Allein die Namen der Stationen: der Berg Ararat, Teheran, die Wüsten Kavir, Schwarze Gobi und Taklamakan am Rande des Karakorum, Oasen wie Buchara und Samarkand, Urumqi, Turfan, Dunhuang, der Gelbe Fluss, der Jangtse, die Große Mauer und schließlich das Chinesische Meer. Aber der Prospekt beschönigt nichts. Er verspricht Millionenstädte und Einöden, Sandstürme, Backofenhitze und Kälte, moderne Autobahnen und Schlaglöcher, dass einem der Bus leidtut, gastfreundliche und unangenehme Menschen, Hotels und gelegentlich vielleicht Unterkünfte, die diesen Namen kaum verdienen.

Buchen konnte man das Abenteuer in Teilstrecken und komplett für 18.700 Euro beim Freiburger Unternehmen Avanti Busreisen. Dessen Chef Hans-Peter Christoph veranstaltet seit Jahren Extrem-Kultururlaube. Er hat schon Touristen über Land nach Marokko, Libyen und Freiburgs iranische Partnerstadt Isfahan gebracht. 2008 fuhr er mit dem Bus von Freiburg nach Peking. Die Kooperation mit speziellen, im "Forum Anders Reisen" vernetzten Veranstalter macht die unmöglich erscheinende Organisation einer Tour durch so viele Länder möglich. Auch Goslich war 2008 an Bord. "Keiner wusste, ob wir ankommen", sagt er. Doch schließlich profitierten er und Christoph von ihrer Erfahrung.

Die beiden fuhren schon als Studenten Lkw in Europa und im Nahen Osten. Das Leben auf der Straße gefiel Goslich so gut, dass er statt Sozialpädagoge Fahrer und Veranstalter alternativer Busreisen wurde. Vor 20 Jahren tourte er mit verschifften Bussen in den USA, brachte Demonstranten zum Pershing-Depot nach Mutlangen und allein erziehende Mütter mit Kind nach Sardinien. In Berlin fuhr er auf antimilitaristischer Stadtführung zu den Schießständen der Alliierten. Die Polizei kam in Zivil hinterher, so wie heute wieder in Iran, Kasachstan oder China. So schnell lässt sich Goslich jedenfalls nicht mehr beeindrucken.

Doch einfach mal eben die Seidenstraße konsumieren können die Touristen auch nicht. Abgesehen von allen anderen unvorhersehbaren Wendungen einer solchen Reise muss die Route der Lage vor Ort angepasst werden. So kam es zum Beispiel vergangene Woche zu blutigen Unruhen mit mehr als 80 Toten in Kirgistan. Aber auch in politisch stabileren Ländern gibt es lange Wartezeiten an den Grenzen, das Problem verpasster Hotels und Nachtfahrten. Hans-Peter Christoph teilte seinen Kunden schon vor dem Start mit: "Es wird vieles ganz anders sein, als sie sich das hier vorzustellen vermögen.Sie werden enttäuscht sein und freudig überrascht. Einiges wird auch schiefgehen! Sie werden an psychische und vielleicht auch physische Grenzen gelangen und sie manchmal überschreiten. Sie werden sich neu kennenlernen."

Das gefällt Kunden, die etwas Ungewöhnliches erleben wollen, aber trotzdem den Komfort und die Sicherheit einer organisierten Gruppe schätzen: Rentner, die über Zeit, Geld und Gesundheit verfügen; Angestellte, die sich ein Sabbatjahr gönnen; eine schwäbische Hausfrau, deren Mann nicht reisen mag - zwei Dutzend Neugierige im Alter zwischen Mitte 30 und Anfang 80.

Bei der Tour nach Peking nahm der Bus bereits einen Teil der jetzigen Route. Zum Beispiel bei 42 Grad Hitze durch die Taklamakan. Die Reisenden kamen an einem uigurischen Dorf vorbei, in dem die Männer Ziegen schächteten. "Gewöhnungsbedürftig ", sagt Goslich, " wir näherten uns langsam." Die Dorfbewohner reagierten aufgeschlossen - obwohl ihnen der ferrarirote Bus wie ein Ufo voller Aliens erschienen sein muss. Die Touristen sind an Tankstellen vorgefahren, wo Bauern ihr Korn mit Flegeln droschen, während die Reichen nebendran ihre Limousinen volllaufen ließen. In Zharkent in Kasachstan haben sie sich nachts nicht auf die finsteren Straßen getraut, weil die Gullys keine Deckel hatten und die Schächte tief waren. Sie haben die Klöster von Bezeklik, die Sanddünen von Dunhuang und die Wanderarbeiter gesehen, die die Straßen bauen und gleich daneben in Zelten hausen. Sie sind in Spurrillen vor den Grenzen gestanden, wo der Asphalt eingesunken war unter der Hitze und dem Gewicht wartender Lkw. Sie brauchten selbst starke Nerven. Sechs Stunden und dauerte die Prozedur der Ausreise aus Kasachstan, drei Stunden die Einreise nach China. Sie mussten ihr Gepäck selbst rübertragen, der Bus wurde durch eine Art TÜV-Parcours gejagt.

Mit solchen Situationen kennt sich Goslich aus. Er besitzt zwei Reisepässe, weil in einem allein kein Platz mehr ist für seine Visa. "Grenzer sind ein Menschenschlag für sich", sagt er, "sie lieben klare Reaktionen auf ihre Fragen, und es stimmt sie bei Kontrollen gnädig, wenn die Leute im Bus ihre Reisepässe schon auf der Lichtbildseite aufgeschlagen halten." Außerdem stellt er sich auf jeden Ordnungshüter individuell ein. " ich frage mich: was hat der gegessen? Wie ist der drauf?" Zur Not hilft Bakschisch. Und es gilt auch die ein bisschen makabere Regeln: Je strenger und stabiler das politische Regime, desto verlässlicher die Einhaltung von Regeln, desto sicherer das Land - etwa Iran oder China.

Da muss noch der Bus durchhalten, ein 489 PS starker Setra mit neuester Sicherheitstechnik und Fünf-Sterne-Komfort: Radarauge und GPS-Ortung, zwei Kunstledersessel für jeden Passagier, 90 Zentimeter Sitzabstand, italienischer Espressomaschine, Bordbibliothek und 230-Volt-Steckdosen, damit die Reisenden ihre Fotos und Notizen gleich auf Ihre Laptops speichern können. Beim letzten Mal musste der mitreisende Mechaniker nur einmal aktiv werden, als sich der Bus in der Türkei in einer Senke verkantet hatte. Für Goslich ist der Komfort neben dem flexiblen Besichtigungsprogramm der wesentliche Grund, warum sich die Reisenden im Verlauf der knapp drei Monate auf engem Raum nicht auf die Nerven gehen. Auch die Chauffeure tragen zur guten Atmosphäre bei. Goslich sagt: "80 bis 90 Prozent unserer Arbeit ist Kommunikation."

Ein Leitspruch, den auch auf Schulungen und als Unternehmensberater weitergibt. Seiner Meinung nach hat die Branche bisher versäumt, in der Öffentlichkeit klarzumachen, wie zukunftsweisend und umweltfreundlich Busreisen seien: bei einem Verbrauch von 26 Litern auf 100 Kilometern mit 30 Fahrgästen kommt Goslich auf einen Pro-Kopf-Verbrauch von unter einem Liter Treibstoff - viermal weniger als bei einer Bahnreise, bis zu zehnmal weniger im Vergleich zu einem Flug.

Am 26. Juni soll der Bus auf der Expo in Schanghai empfangen werden. wer zurück nach Deutschland immer noch nicht fliegen will, nimmt die Transsibirische Eisenbahn oder ein Frachtschiff. Oder der begleitet Wolfram Goslich - im Bus.

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